Innovation ≠ User Experience

Innovation ≠ User Experience

Viele Unternehmen glauben, ihre Innovationsprobleme mit einer User Experience Abteilung oder Agentur lösen zu können. Und ebenso viele User Experience Abteilungen und Agenturen glauben, dass ohne sie Innovationen nicht möglich sind.

Ohne UX geht nix? Meine These ist, dass 95% aller Innovationen ganz ohne UX entstehen. Genauer: Ohne die Rolle UX oder einen bewussten UX-Prozess, welchen UX Abteilungen oder Agenturen für sich in Anspruch nehmen.

Der erste Grund dafür ist relativ simpel: Ein Großteil der Innovationen entsteht in frühen Phasen von Startups, und diese Startups haben zu diesem Zeitpunkt alles andere – nur keine UX Abteilung, geschweige denn eine teure UX Agentur. Wer das nicht glaubt, bekommt in Founders at Work von Jessica Livingston einen guten Eindruck, wie Innovation in Startups funktioniert.

Der zweite Grund ist etwas komplizierter, denn er betrifft die Nicht-Startups mit UX-Abteilung oder Agentur, die natürlich auch Innovationen produzieren. Hierbei hilft ein Blick in die Rolle, die UX in diesen Unternehmen spielt.

UX will vieles sein und können, in der Praxis findet man (etwas vereinfacht) die 3 Funktionen Design, Research und Architektur/Wireframing, wobei Design den bei weitem größten Teil ausmacht.

Common UX roles

Schaut man etwas genauer in den Bereich Research rein, gibt es da wiederum drei große Cluster: Lab-Tests mit dem Löwenanteil, dann die immer noch sehr angesagten Café-Tests und ein wenig explorativen Research.

Common UX research methods

Verteilt man nun die einzelnen UX-Rollen und Methoden grob zeitlich über den Entwicklungsprozess von der Idee bis zum Launch, bekommt man in etwa das folgende Bild:

UX Roles in Innovation Funnel

Das grundlegende Problem ist nun, dass Innovation zeitlich gesehen genau gegensätzlich entsteht: am Anfang des Entwicklungsprozesses, in dem die wesentlichen Produkteigenschaften angelegt werden. Und in den frühen Phasen der Produktentstehung haben klassischerweise andere Funktionen und Rollen das Sagen: Management, Business Development, Produktmanagement oder auch ganz profan die klassische Marktforschung.

UX and other roles in innovation funnel

Mit anderen Worten: UX ist entgegen dem allgemeinen Anspruch in Bezug auf Innovationen nie wirklich in den entscheidenden Produktphasen angekommen. Hier sind 2 Thesen, warum das so ist:

  • UX ist in der Agentur-Welt entstanden und hängt dort immer noch fest. UX wird nach wie vor primär als Dienstleistung wahrgenommen, die man im Zuge der Ausführung von Produktentwicklungen temporär dazu holt. Die Tools und Methoden haben sich genau um diese Rolle herum entwickelt, die darauf ausgerichtet ist, auf Basis von Briefings fest definierte Serviceleistungen in einem weitgehend linearen Prozess zu erbringen.
  • Eng damit verknüpft ist das Problem, dass UX traditionell auf wenige der möglichen Innovationsdimension begrenzt ist. Innovation kann aber über viele Faktoren erreicht werden und je mehr dieser Stellhebel kombiniert werden, desto größer das Innovationspotential. Aber wo sind die Antworten von UXlern, wenn es um Stellhebel wie Pricing, Distributionskanäle, Branding, strategische Netzwerke und Prozesse geht, die allesamt einen erheblichen Einfluss auf die Userexperience haben?

Wer als UXler nicht mehr als das eingefahrene Rollenbild und das bestehende Instrumentarium zu bieten hat, wird auch weiterhin nicht viel mit Innovation in Berührung kommen. UX kann ein großer Hebel zu mehr Innovation sein, aber eben nicht als festes Toolkit, sondern als grundlegende Philosophie hinter den einzelnen Gewerken, die in der Produktentstehung zusammenarbeiten müssen.

Anmerkung: Dieser Blog-Post ist die schriftliche Version meines Vortrags auf dem World Usability Day Berlin 2015.

Foto von wrong_do auf flickr unter CC Lizenz.