Featuritis: Wann ist genug genug?

Featuritis: Wann ist genug genug?

Eine Art Naturgesetz im Online-Produktmanagement scheint zu sein, dass die Anzahl von Features und Funktionen auf Websites mit der Zeit exponentiell wächst.

Features Zeit

Die exponentielle Kurve ist in der Regel einem Umsatzdruck geschuldet. Aber auch ganz ohne Umsatzdruck sind Produktmanager kreativ genug und wollen „produktiv“ sein – oft genug werden sie vom Management auch und gerade am quantitativen Output „innovativer Produkte“ gemessen.

Vielfach sind sich alle Beteiligten bewusst, dass zu viele Features entwickelt werden, aber trotzdem kann keiner das Hamsterrad stoppen. Was fehlt, ist eine Denkstruktur, die Entscheidungen erleichtert, wann ein zusätzliches Feature Sinn macht – und wann eben nicht.

Um sich einer solchen Entscheidungshilfe zu nähern, hilft es, an den Anfang zurückzuschauen. Jedes erfolgreiche Unternehmen ist bewusst oder unbewusst durch die folgenden Phasen / Fragestellungen gegangen:

  1. Vision: Warum ist das Unternehmen da?
  2. Problem/Solution Fit: Nehmen Nutzer das Produkt zur Vision als eine geeignete Lösung für ein reales Bedürfnis wahr?
  3. Product/Market Fit: Gibt es genug Nutzer, die mit einem wiederholbaren Prozess zum Kauf des Produkts bewegt werden können und lässt sich daraus ein wirtschaftlich sinnvolles Modell entwickeln?
  4. Scaling: Überführung des Gelernten in eine langfristige, profitable unternehmerische Struktur.

Das Ergebnis aus den iterativen Stufen 1-4 ist ein Canvas (ob man nun das Business Model Canvas von Alexander Osterwalder oder das Lean Canvas von Ash Maurya nimmt, ist eher Geschmackssache und im Folgenden nicht relevant), bei dem alle Quadranten validiert (=grün) sind und zusammen ein funktionierendes Ganzes ergeben.

Iteration Business Model Canvas

Der Weg zu einem funktionierenden Canvas ist weit und beschwerlich. Selbst WhatsApp hat Jahre dafür gebraucht. Und jedes „grüne“ Canvas ist prinzipiell ein fragiles Objekt, das nur in einem speziellen inhaltlichen und zeitlichen Kontext funktioniert. Das Modell muss in regelmäßigen Abständen kritisch hinterfragt und an sich verändernde interne wie externe Rahmenbedingungen angepasst werden.

Der Trick zur Beantwortung der Frage nach den „richtigen“ Features ist nun, jedes neue Feature gleichzeitig als eine potentielle Gefahr und Chance für das Gesamtmodell zu begreifen. Eine Änderung in einem Quadranten kann das ganze Modell gefährden oder entscheidend weiterentwickeln. Je tiefer die neue Funktion potentiell in das bestehende Modell eingreift, desto weiter muss man zurück an den Anfang gehen und überprüfen, ob es sich wirklich lohnt, das neue Feature einzuführen. Die entscheidenden Fragen sind deshalb: Unterstützt oder bricht das Feature …

  1. … die Vision?
  2. … den Problem/Solution Fit?
  3. … den Product/Market Fit?
  4. … die existierende Skalierungsmaschine?

Business Model Canvas

Dieser Schritt wird in den wenigsten Unternehmen gemacht und sieht zunächst ungewohnt aus. Aber letztlich formalisiert dieser Schritt nur Dinge, die sowieso stattfinden müssen. Wer die Fragen für neue Features nicht relativ schnell beantworten kann, weiß schon von vornherein, dass Vorsicht geboten ist. Und mit der Zeit wird der Prozessschritt dann ein natürlicher Bestandteil von Feature-Diskussionen werden, so dass bewusster entschieden und das bestehende Modell kontinuierlich geschärft wird, anstatt es zu verwässern. Erfolgreiche Produkte zu bauen, heißt, manchmal langweilig zu sein und das Eine ganz besonders gut und richtig zu machen, anstatt mit vielen verschiedenen Features kurzfristigen KPI-/Umsatzzielen hinterherzulaufen.

Foto von Bill Stillwell auf flickr unter CC Lizenz