Viele Produkte werden während der Konzept- oder Entwicklungsphase überhaupt nicht oder erst in einem sehr späten Stadium getestet. Einer der Hauptgründe hierfür ist die Angst, den Kunden ein Produkt zu zeigen, das dem gewohnten Qualitätsstandard nicht genügt und die Marke beschädigt. Speziell große, etablierte Unternehmen glauben, mit Produkttests Reputation am Markt zu verspielen. Aus dieser Angst heraus wird also mehr oder weniger bewusst auf das Lernpotential agiler Produktentwicklung verzichtet (siehe hierzu auch unseren Blog-Post „Verschenktes Potential agiler Produktentwicklung“).
In der Praxis sind diese Befürchtungen unbegründet. Jeder, der einmal einen Produkttest erlebt hat, wird die folgenden Punkte bestätigen können:
- Nutzer sind in der Lage, einen Test von der wirklichen Welt zu unterscheiden, solange nur vom Start weg halbwegs klar gemacht wird, dass es sich um einen Test handelt.
- Nutzer, die an Tests teilnehmen, geben unabhängig vom Reifegrad der Entwicklung und der Relevanz für die eigenen Bedürfnisse gerne Feedback. Sie wissen es zu schätzen, dass ihre Meinung gehört wird, und sind in der Regel zufriedenere Kunden mit einer intensiveren Bindung.
- Rohe, unfertige Prototypen sind die beste Wahl, um fundamentale Probleme mit Produkten herauszufinden, da sie nicht von den Kernfunktionen ablenken und zu Kritik ermuntern.
Einen negativen Effekt von Produkttests kann es generell nur geben, wenn Nutzer unkommentiert mit einem Entwicklungsstand innerhalb der normalen live-Umgebung konfrontiert werden und deshalb nicht in der Lage sind, zwischen Test und wirklichem Produkt zu unterscheiden. Aber selbst dann wird der mögliche negative Effekt oft stark überschätzt. Solange das agile Prinzip befolgt wird, klare abgeschlossene Userstorys live zu stellen, haben Nutzer grundsätzlich nicht mehr Grund negative Gefühle aufzubauen als bei fertigen Features (die niemals fertig sind).
Wer Angst vor „zu frühen“ Tests hat, hat also allen Grund, sich intensiver mit der Vielzahl bewährter, einfacher Test-Methoden auseinanderzusetzen – am besten mit kleinen, flexiblen Experimenten, um das Know-how schnell und nachhaltig aufzubauen. Einfach mal ausprobieren! Entscheidend ist, dass die Hürden für das Testen so gering wie möglich sind, damit jeder Produktmanager gar nicht mehr überlegt, ob überhaupt getestet werden soll. Unternehmen, die das tun, werden dann doppelt belohnt: Zum einen kommen sie überhaupt in die Lage testen zu können, zum anderen können sie differenzierter testen. Letzteres ist besonders wichtig, denn das agile Lernen lebt schließlich davon, die hinter dem Produkt liegenden kritischen Annahmen zu testen und nicht das Produkt selber. Gerade in einer frühen Entwicklungsphase abstrahieren effektive Tests vom Produkt selber und können vollkommen unterschiedliche Formen haben.
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